Ein Gefühl von Macht
Meine Chefin Hilde Benjamin - Werner Barfus erinnert sich an die DDR-Justizministerin

Mittwochs war es immer ruhig. Mittwoch war der Sitzungstag am Obersten Gericht der DDR in der Scharnhorststraße 33-35 in Berlin-Mitte, unmittelbar an der Sektorengrenze. Daher gab es keine Verhandlungen, weder der Zivil- noch der Strafsenate. Das war auch am 17. Juni 1953 so. Um neun Uhr begann im Plenarsaal wie immer eine Beratung. Die Richter trugen ihre schwarzen Dienstanzüge.

Ich arbeitete beim 1. Strafsenat am Obersten Gericht. Meine direkte Vorgesetzte war Vizepräsidentin Hilde Benjamin und ich ihr persönlicher Sekretär in politischen Strafsachen. Gegen 9.30 Uhr musste ich zur Benjamin kommen. "Fahr doch mal zum Haus der Ministerien und schau nach, ich habe gehört, dass dort etwas los ist", trug sie mir auf. Ich nahm ihren Dienstwagen mit dem roten Nummerschild GB -23. Auf der Spreebrücke am Schiffbauerdamm hielten mich Volkspolizisten an. Sie rieten mir, sofort umzudrehen, da mein Auto am Kennzeichen als Regierungsfahrzeug zu erkennen wäre. Am Haus der Ministerien sei der Teufel los, da würden schon Wagen brennen.

Dies berichtete ich der Benjamin. Die Sitzung wurde sofort unterbrochen. Alle Richter zogen Zivilkleidung an und legten ihre Parteiabzeichen ab. Hilde Benjamin bestimmte so genannte Diskussionsgruppen aus je drei männlichen Mitarbeitern. Wir sollten auf der Straße mit den Demonstranten über den zuvor verkündeten "Neuen Kurs" reden. Gegen 10.30 Uhr ging ich mit zwei Richtern zur Chausseestraße. Es waren viele Menschen unterwegs. Die Masse verhielt sich ruhig; vereinzelt nur hörte ich Rufe wie "Weg mit Ulbricht" oder "Weg mit der Regierung".

In der Friedrichstraße eskalierte plötzlich die Lage. In der Hausnummer 166 wohnte im ersten Stock der englische Korrespondent John Peet. Ich kannte ihn, weil er eine Reportage über unsere Justiz geschrieben hatte. Auf seinem Balkon hingen eine rote und eine britische Fahne. Die Arbeiter verlangten: "Mach das rote Ding weg!" Doch Peet weigerte sich. Einige Demonstranten kletterten auf den Balkon, rissen die Fahne herunter und zündeten sie an. Angesichts dessen verzichteten wir auf Diskussionen mit den Demonstranten und klingelten stattdessen an der Wohnung, Peet öffnete und war völlig entsetzt über das Geschehen.

Zurück im Obersten Gericht, erzählten wir von unserem "verfehlten Einsatz". Die Benjamin war fassungslos: "Was wollen die denn noch?" Seit Verkündung des "Neuen Kurses" war die Justiz damit beschäftigt gewesen, übertriebene Urteile zurückzunehmen. Es gab auch Haftentlassungen. Außerdem hatten Ulbricht und Grotewohl am Abend des 16. Juni auf einer Sitzung des Berliner Parteiaktivs vor 3000 Genossen die Rücknahme der Normenerhöhung verkündet. Das war allgemein bekannt. Die Benjamin forderte uns auf, Ruhe zu bewahren. Sie werde den Verbindungsmann im ZK, Anton Plenikowski, anrufen. Doch sie erreichte ihn nicht, alle Verbindungen zum Zentralkomitee waren unterbrochen. Anschließend gingen meine Chefin und andere Richter erst einmal essen. Sonst fuhren sie dazu ins Gästehaus der Regierung am damaligen Thälmannplatz, schräg gegenüber vom Haus der Ministerien. Das ging am 17. Juni nicht. Wohl oder übel mussten sie in der Kantine des Gerichtes speisen.

Für 17 Uhr wurde dann eine Parteileitungssitzung einberufen, an der ich als Jugendvertreter teilnahm. Wir sollten Maßnahmen bereden. Hilde Benjamin sagte: "Was sollen wir denn besprechen, wir müssen doch erst einmal Anweisungen bekommen." Sie löste die Versammlung auf und schickte uns nach Hause.

Am 20. Juni beauftragte das Politbüro dann Justizminister Max Fechner und Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, mit den Aburteilungen von verhafteten Demonstranten zu beginnen. Gleichzeitig wurde ein Stab gegründet, den Hilde Benjamin leitete und der zur Anleitung der Strafverfahren gedacht war. Die Benjamin wies sofort die Bezirksgerichte an, Strafsenate mit verlässlichen Richtern einzurichten. Zusätzlich schickte sie Instrukteure in die Bezirke, die als "politische Berater" bezeichnet wurden.

Diese Instrukteure riefen sogar nachts beim Stab an und schlugen Fälle zur Entscheidung vor. Urteile, die mehr als fünf Jahre Haft bis zur Todesstrafe vorsahen, sollten per Sonderkurier direkt nach Berlin zu Benjamins Stab gebracht und binnen 48 Stunden bestätigt zurückgeschickt werden. Ich war auch einmal als Kurier unterwegs und habe das Todesurteil für die angebliche KZ-Aufseherin Erna Dorn nach Halle gebracht.

Der 17. Juni beschäftigte uns also noch weiter, doch über Anliegen der Arbeiter wurde kein Wort gesprochen, auch in den Parteiversammlungen am Obersten Gericht nicht. Die Benjamin hatte gesagt, der Aufstand sei ein Werk des Rias und der Monopolkapitalisten. Damit war die Sache erledigt. Wenig später wurde Fechner abgesetzt und Hilde Benjamin am 17. Juli neue Justizministerin. Sie gab eine kurze Abschiedsrunde, sagte: "Macht's gut Leute", und weg war sie. Ich blieb weiter Sekretär beim 1. Strafsenat.

Meine Arbeit bei der Benjamin hatte ich im Februar 1950 begonnen. Ich war damals 23 Jahre alt und kam vom Amtsgericht Plau in Mecklenburg. Dort hatte ich von der Gründung des Obersten Gerichts gelesen und mich als Rechtspfleger dorthin beworben. Meine Kollegen haben nur gelacht und gefragt: Was willst du denn in Berlin? Doch keine drei Wochen nach meiner Bewerbung erhielt ich einen Brief: Ich sollte sofort zur Vorstellung kommen. Meine Kaderakte war schon da. Ich war in der FDJ, kam aus einer einfachen Familie vom Lande: Es passte also alles. Ich bekam gleich 600 Mark, das war damals sehr viel Geld, und bessere Lebensmittelkarten.

Nach sechs Wochen wurde ich Benjamins Sekretär. Ich war somit ihre rechte Hand bei der Vorbereitung von Prozessen, auch der Geheimprozesse, die sie Anfang der fünfziger Jahre leitete. Ich erhielt auch andere "Aufgaben". So musste ich im Dezember 1952 am 45. Geburtstag Erich Mielkes 45 rote Nelken zum Dienstsitz des Staatssekretärs für Staatssicherheit bringen. Im März 1953 organisierte ich die Trauerfeier für Stalin im Obersten Gericht.

Für die Benjamin waren Richter und Staatsanwälte politische Funktionäre. Dementsprechend trat auch sie vor Gericht auf und erfüllte die Vorgaben der SED-Spitze. Wegen ihres scharfen Tones und ihrer Weltanschauung wurde sie "Rote Hilde" genannt. Mir gegenüber aber war sie sehr fürsorglich. Nur als ich mich einmal beim Militärstaatsanwalt bewerben wollte, wurde sie wütend, weil ich von ihr weg wollte. Sie war eine Vorgesetzte, die viel forderte und sehr impulsiv war. Trotzdem war es eine spannende Zeit - auch weil man das Gefühl von Macht kennen lernte.

Später begannen mich die Eingriffe der Politik in die Justiz zu stören. Ende 1966 hatte ich genug von der Justiz und habe gekündigt. Eine Aufhebung des Arbeitsvertrages war zuvor abgelehnt worden, obwohl ich unter gesundheitlichen Problemen litt. Ich bin dann zum Fernsehen gegangen. Zuerst war ich Ökonom, später Vorsitzender der Gewerkschaftsleitung der Dramatischen Kunst. Die letzten Jahre bis zur Wende arbeitete ich in der Direktion Theater und Orchester, die dem Kulturministerium direkt unterstand.

Der 17. Juni 1953 spielte in all den Jahren keine Rolle mehr für mich, er war irgendwie bedeutungslos. Das änderte sich nach der Wende. Seitdem habe ich viele Akten und Dokumente durchgearbeitet. Heute denke ich: Ich war damals zu jung, um die Auswirkungen einschätzen zu können. Und wir haben völlig überreagiert. Außerdem muss ich ehrlich eingestehen: Normenerhöhung und Marmeladenpreise haben 1953 kaum einen im Apparat interessiert. Vielen dort war die Lage der Arbeiter egal.

Quelle: Berliner Morgenpost, 15. Juni 2003

Zurück

© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003