Berliner Zeitung, 14./15. Juni 2003 Nr. 136, Seite 1
Ein Zeitzeuge hat keine Zeit
von Felix Zimmermann

Er hat sich nicht aufgedrängt, dazu ist Klaus Gronau nicht der Typ. "Ich habe nie geschrien: ,Hier bin ich ", sagt er. Trotzdem ist er im Stress. Schon vor Wochen fing es an, inzwischen kommt er zu Hause gerade noch dazu, den Wäscheständer auf den Balkon zu tragen, wenn Besuch kommt, und wieder ins Zimmer, wenn der Besuch weg ist. Besuch kommt allerdings selten, "die ganze Zettelwirtschaft, alles liegt rum", sagt Klaus Gronau. Das ist ihm peinlich, aber er hat keine Zeit zum Aufräumen, der 17. Juni hält ihn in Atem. Klaus Gronau, 66, ist Zeitzeuge und sehr gefragt in diesen Tagen. Alle wollen die, die dabei waren. Es fing an mit einer Produktionsfirma, die für arte und die ARD einen Film machte. Dann kam der RBB-Berlin, das Radio, die Deutsche Welle, die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, der CDU-Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf, wo Gronau Mitglied ist. Überall hat er seine Geschichte erzählt. Wie er damals, als 16-jähriger Lehrling, den Bauarbeitern von der Stalinallee folgte. Er sah Panzer am Lustgarten, hörte Warnschüsse. Einen Moment hat er nie vergessen: Ein Bauarbeiter lag da, von einem Panzer überrollt. Mittags war der Mann neben ihm gelaufen, in der linken Hand die Stullenbüchse. Nun lag sie neben der Leiche, platt wie eine Briefmarke.

Wäre es nach Klaus Gronau gegangen, der 1957 mit seiner Familie nach West-Berlin zog, hätte er früher angefangen, die Erinnerung zu bewahren. Aber es hat sich niemand dafür interessiert. "Der 17. Juni war im Westen ja Badetag", sagt er. "Schade, dass er so lange vergessen wurde." Nun hat er noch ein paar Tage Gelegenheit, etwas dagegen zu tun: Der Zeitzeuge Gronau schmückt die Kranzniederlegung der Stiftung Aufarbeitung am Montag, danach muss er zum CDU-Kreisverband und abends zur Bundes-CDU mit Kohl und Merkel. Am 17. spricht er im Gottesdienst in der Marienkirche, er ist zur Kranzniederlegung der Bundesregierung am Friedhof Seestraße geladen und zur Gedenkveranstaltung im Bundestag. Wie die alle auf ihn gekommen sind? Klaus Gronau weiß es nicht mehr. "Ich genieße das jetzt nur", sagt er. Er ist froh, dass sich doch noch jemand für den Tag interessiert. Da können Wäscheständer und Zettelwirtschaft noch ein bisschen warten.

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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003