Hedwig Othma ist heute 92 Jahre alt und lebt wieder in Sandersdorf, 5 km von Bitterfeld entfernt. Genauso wie damals, als sie eine glückliche, zum Bedauern von Hedwig Othma jedoch kinderlose Ehe mit Paul Othma führte. Paul Othma ist Elektromonteur und Radio- und Fernsehfachmann. Nach dem Krieg hatte er sich selbständig gemacht, sein Geschäft lief gut und er war beliebt bei den Leuten. Die Othmas besaßen ein Eigenheim. Hedwig Othma führte den Haushalt.

Durch die hohen Steuern für die Selbständigen war Paul Othma gezwungen, sein Geschäft aufzugeben und wieder in einem Werk in Bitterfeld zu arbeiten. Finanziell konnte die Familie aber wieder aufatmen. Am 17. Juni 1953 geht Paul Othma um 6 Uhr frühmorgens zur Schicht.

Bitterfeld entwickelt sich zu einem der Zentren des Aufstandes. Die Arbeiter aus den umliegenden Industriegebieten in Wolfen, Buna, Leuna strömen an diesem Tag nach Bitterfeld. „Paul, du kannst gut reden, du vertrittst unsere Forderungen bei der Regierung" - haben ihm die Chemiearbeiter gesagt. So wurde er, genauso wie Lehrer Wilhelm Fiebelkorn, in die Streikleitung gewählt. Als Streikkomitee des Kreises Bitterfeld haben sie ein Telegramm an die Führung der DDR und an vier Besatzungsmächte geschickt mit Forderung der Werktätigen:

1. Sofortiger Rücktritt der Regierung, die durch Wahlmanöver an die Macht gekommen ist;
2. Einsetzung einer provisorischen deutschen demokratischen Regierung;
3. Freie demokratische, geheime und direkte Wahlen in 4 Monaten
4. Zurückziehung der deutschen Polizei von den Zonengrenzen und sofortiger Durchgang für alle Deutschen;
5. Sofortige Freilassung der politischen Häftlinge (Kirche, weltliche Anschauung sogenannte Wirtschaftsverbrecher) und Rückkehr aller Gefangenen aus aller Welt;
6. Sofortige Normalisierung des Lebensstandards ohne Lohnsenkung;
7. Zulassung aller großen deutschen demokratischen Parteien Westdeutschlands in unserer Zone;
8. Keine Repressalien gegen die Streikenden;
9. Sofortige Abschaffung der sogenannten Volksarmee;
10. Zulassung der Delegation aus der Ostzone, die eine der deutschen Parteien gründen wollen.

Diese Forderungen werden außerdem per Funk an alle umliegenden Betriebe übertragen. Die Demonstranten besetzen in Bitterfeld die Kreispolizei, die Kreisstelle der Staatssicherheit, die Post. Es werden politische Gefangenen befreit. Es fällt kein Schuss. Paul Othma greift immer wieder beschwichtigend ein.

Görlitz, Halle Bitterfeld - das waren die drei Orte, wo die Aufständischen die Stadtverwaltung abgesetzt hatten.
Gegen 18 Uhr übernimmt aber die sowjetische Armee mit ihren Panzern die Obermacht in der Stadt. Fiebelkorn und die anderen Streikführer fliehen. Paul Othma nicht. Doch das alles weiß Hedwig Othma noch nicht, bis sie durch Nachbarn informiert wird. Sie weißt auch nicht, welche Rolle dieser Tag in ihrem Leben spielen wird.

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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003