Manfred Seidel ist 1934 geboren. Er hat erst vor kurzem seine Lehre als Tischler an einer Lehrwerkstatt abgeschlossen. Das war eine Pateneinrichtung von Wilhelm Pieck. Pieck, der erste Präsident der DDR, war auch ein Tischler.

Manfred Seidel ist stolz, an der Baustelle Stalinallee arbeiten zu können. Bis jetzt war er nur am Flicken der halbzerstörten Gebäuden eingesetzt. Endlich darf er etwas Neues Bauen. Die Stalinallee ist die Prestigebaustelle der DDR. Man will der ganzen Welt zeigen, wie der neue deutsche  Arbeiter- und Bauerstaat sich um seine Menschen kümmert. Es ist noch viel zu tun. Die ersten zwei Häuser werden erst im Januar 1953 bezogen. Die Arbeit an der Baustelle ist schwer. Manfred Seidel verdient nur 1,58 DM/Stunde, die Arbeitswoche hat 48 Stunden.

Am 16. Juni 1953 erscheint ein Artikel in der „Tribüne", dem Zentralorgan der Gewerkschaften. Darin wird noch einmal die Notwendigkeit der erhöhten Normen bestätigt. Die Arbeiterklasse hat sich dazu „freiwillig" verpflichtet. Diese Lüge ist der letzte Tropfen im Fass des Unmuts unter den Bauarbeitern. Der erst seit ein paar Tagen verkündete „Neue Kurs" hat vielen in der DDR spürbare Erleichterungen gebracht. Nur die Arbeiter, die angeblich führende Klasse, sollte weiterhin die Kosten für den Aufbau des Sozialismus tragen.

Die Nachricht vom Streik an der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain verbreitet sich rasch auch in der Stalinallee. Tausende Bauarbeiter wollen ihren Unmut der Regierung der DDR bekunden. Unter ihnen ist auch Manfred Seidel. Er erlebt zwei Tage des Aufstandes mit, ist daran aktiv beteiligt und war beinahe überall in der Stadt mit dabei. Er konnte verfolgen, wie ein als Streik angefangener Protest von Berliner Bauarbeitern über den Generalstreik der breiten Massen zu der größten Volkserhebung deutscher Geschichte wurde. Auch die Forderungen veränderten sich im Laufe dieses Prozesses - von rein wirtschaftlichen zur politischen. Angefangen mit dem Ruf nach der Zurücknahme der erhöhten Normen fordern die Aufständischen am 17. Juni den Rücktritt  der Regierung, freie gesamtdeutsche Wahlen und die Wiedervereinigung.

Die eingesetzte Kasernierte Volkspolizei sowie die überrannten Parteigenossen waren nicht in der Lage, die Ruhe wieder herzustellen. Erst mit dem Eingreifen der sowjetischen Armee konnte die Regierung der DDR die Situation unter ihre Kontrolle bringen.

Nach dem Aufstand hat Manfred Seidel nicht wie viele andere eine Verfolgung erleben müssen. Doch diese zwei Tage sind an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Jahrzehnte war das Thema 17. Juni für ihn verdrängt. Es ist ihm sehr wichtig, dass so viele Menschen wie möglich, vor allen junge Menschen, seine persönliche Geschichte erfahren.

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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003