|
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2003, Nr. 137, Seite 39 Der Film im Koffer Menschen in Aufruhr gegen das Regime: „Helden ohne Ruhm" von Regina Mönch
Was war der 17. Juni 1953? „Ein Volksaufstand", sagt Ingrid Eckhardt heute, damals Technische Assistentin im Stahlwerk Hennigsdorf, und man spürt, dass sie das nie anders gesehen hat. Eine frühere Oberreferentin im Ministerium von Margot Honecker beantwortet die Frage ganz anders, doch genauso fest: „Gegen dieses Wort melde ich meine Zweifel an." Die Referentin lauschte, als das Volk - dazu gehörig Ingrid Eckhardt - auf der Straße den Sturz der Regierung forderte, im Berliner Admiralspalast den Worten ihres Großen Vorsitzenden Walter Ulbricht. Aus diesem Gedankengefängnis hat sie nie ausbrechen wollen. Ihre Zweifel bleiben dem Zuschauer so fremd wie Arbeiterlogik den damals Herrschenden.
Artem Demenok und Andreas Christoph Schmidt lassen in ihrem bemerkenswerten Dokumentarfilm „Helden ohne Ruhm" vor allem die Zeugen erzählen, was damals vor fünfzig Jahren geschah und wie sie das heute beurteilen. Opfer und Täter, zufällig Beteiligte und Streikführer, Arbeiter, Angestellte, ein Förster, ein Dorffrisör, Funktionäre, eine Fotografin und drei ehemalige sowjetische Offiziere kommen zu Wort. Ihre Erzählungen sind Eingebettet in die Wochenschau-Ausschnitte dieses historischen Jahres, und nur an den Kommentaren der jeweiligen Sprecher erkennt man, für welches Publikum die Bilder einst bestimmt waren - für das im Westen oder das im Osten. Es ist der Ton des Kalten Krieges, den westlichen kann man ertragen, den ins Groteske gesteigerten der SED-Propaganda nur schwer. In neunzig Minuten entfalten die Autoren ein Panorama dieser fernen Zeit, wie es nur wenigen bisher gelungen ist. Berlin ist das Zentrum, wo sich der Funke des Aufruhrs entzündete, der in vierundzwanzig Stunden ein ganzes Land erfasste und den nur die Panzer der Sowjets niederschlagen konnten - sonst hätte er damals die Welt verändert. Aber das konnte nicht sein , den durch Berlin verlief auch die Frontlinie zwischen der Ostwelt und der des Westens.
Das „Volk" im Osten hatte sich, obwohl aus guten Gründen, zur Unzeit erhoben, es störte nicht nur die SED und ihren Terrorapparat. Es störte leider auch die Weltgeschicke, die gerade begannen, sich einzulassen auf die Ost-West-Teilung für ein halbes Menschenalter. Welchen Preis dafür Millionen zahlten, deren Hoffnung auf das bessere, das richtige Leben unter den Ketten der Panzer begraben wurde, lassen die Schicksale der Zeitzeugen erahnen. „Wissen Sie, als dann dieser, wie sagt man - Umsturz - kam, da dachte ich, ich drehe durch", sagt Hedwig Othma, die Witwe eines Bitterfelder Streikführers, in die Kamera. Sie meint 1989 und fragt verzweifelt: „Hätte es nicht schon damals sein können? Es sind doch wohl viele, die so unglücklich waren wie ich."
Ihr Mann, ein Elektromonteur, den seine Kollegen mochten, der gut reden konnte, und den sie deshalb auswählten, ihre Forderungen vorzulesen, wurde wegen „Boykotthetze" und als faschistischer Provokateur" verhaftet. Er musste zu so einem zurechtgelogen werden, damit die SED ihre Welt wieder vom Kopf auf die Füße stellen konnte. Othma hätte, als die Russen kamen, fliehen können, wie die anderen vom Streik-Komitee. Aber Othma blieb. Er habe sich ohne Schuld gefühlt, sagt seine Frau, bis zum Schluss. Er war auch ohne Schuld, wurde trotzdem zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt und saß davon elf unter Bedingungen ab, die denen der Nazis nur wenig nachstanden. Nach elf Jahren kam er frei, als kranker, gebrochener Mann, er starb vier Jahre später. Fast nebenher erzählt seine Witwe, was diese Jahre für sie bedeuteten. Das Sparbuch, der Lohn und aller Besitz wurden beschlagnahmt. Ihr Mann habe doch den Schadenbezahlen müssen, sagt Hedwig Othma, der entstanden war, als Zehntausende streikten. Das Haus wurde ihr weggenommen, „da zogen andere ein".
In diesem kleinen Detail steckt das Unglück so vieler, es zeigt aber auch, wer im Juni 1953 und später verlor und wer gewann. Jene, die damals mit dem Besitz der außer Landes Getriebenen und der Verhafteten belohnt wurden, sie hatten jahrzehntelang triftige Gründe zu schweigen und die von der SED verordneten Schmutzlegenden weiterzutragen.
Der üble Fluch, mit Faschisten gemeinsame Sache gemacht zu haben, hat im Kernland des institutionalisierten Antifaschismus wesentlich dazu beigetragen, dass auch Nachgeborene so lange nicht wagten nachzufragen, was denn wirklich geschehen war. Demenoks und Schmidts Film dokumentiert auch den Fall Erna Dorn, einer vorgeblichen KZ-Aufseherin, die jedoch nur auf Grund von Selbstbezichtigungen verurteilt worden war. Die neusten Forschungsergebnisse - die der Film vorstellt - belegen, dass es sich bei Erna Dorn um eine geistig verwirrte Frau mit unklarem Vorleben handelte. Sie wurde, um die Inszenierung vom „faschistischen Putsch" durchzusetzen, zur Nazisse hochstilisiert, obwohl es an jedem Beweis dafür fehlte. So gesehen ist ihre Hinrichtung - nach nur zehn Tagen hatte das Urteil im Eiltempo alle Instanzen passiert - ein Justizmord gewesen.
Der 17. Juni ist das wahrscheinlich am besten und gründlichsten erforschte historische Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Die Zahl der neuen Bücher hat fast inflationäres Ausmaß, doch lohnt die Lektüre fast jeder Neuerscheinung. Sie sind die Begleitbände zu den Filmen, den Radiosendungen, den unzähligen Zeitzeugengeschichten, die man seit einigen Wochen endlich zu hören und zu sehen bekommt. Sie dokumentieren akribisch mit Justiz-, Partei- oder Stasiakten, dass das, woran sich einzelne erinnern, wahr ist, auch wenn viele diese Tatsache immer noch nicht anerkennen wollen. Jede Lüge wird so demaskiert, und die Bücher sind, wie der Film „Helden ohne Ruhm", nicht nur Aufklärungswerk im besten Sinne, sondern auch späte Wiedergutmachung für Tausende zu Unrecht Verleumdete.
Es gibt viele Gründe, sich diesen Film anzuschauen, einer wäre hervorzuheben: Der kurze Streifen eines besessenen Amateurfilmers aus Leipzig über diesen Tag im Juni 53 ist einzigartig. Er öffnet uns, den Zuschauern, zum ersten Mal das Fenster in die Provinz. Bisher galt: Nur in Berlin konnte damals gefilmt werden, die Kameras der West-Berliner Berichterstatter standen an der Sektorengrenze der geteilten Stadt. Alles, was anderswo aufgenommen wurde, so glaubte die Stasi, habe sie beschlagnahmen können, bevor diese Bilder öffentlich wurden. Aber das Leben geht eigensinnige Wege, und der Leipziger Fotograf wurde nie erwischt. Er hatte seinen Film versteckt, und dann wurde der Mann, wie seine Nichte im feinsten Sächsisch berichtet, fünfundsechzig Jahre alt: „Das war bei uns hier ein magisches Datum, da konnte man dann in den Westen fahren." Der Pensionär packte also seinen Koffer und in diesen die kostbare Filmrolle. Warum die dann noch einmal zwanzig Jahre auf einem hessischen Dachboden einstauben musste, ist ein Rätsel; sie entdeckt zu haben, das ist das Verdienst der Autoren.
In „Helden ohne Ruhm" (was eigentlich nicht mehr stimmt) sehen wir deshalb endlich, wie Menschen aussehen, die glauben, ihre verhasste Regierung erfolgreich zum Teufel gejagt zu haben: glücklich. Fröhlich winkend, ziehen sie mit Kind und Kegel, ihre Fahrräder schiebend, an den Ruinen Leipzigs entlang.
Hätte es also nicht doch schon damals soweit sein können, als so viele Menschen glaubten, im Glück der Freiheit angekommen zu sein?
|
|