Andreas Christoph Schmidt im Gespräch bei Radio Eins (anhören)

Der Spiegel, 25/2003
Nach aufwendigen Fiktionen und einem Doku-Drama meldet sich nun der gute alte Dokumentarfilm zum Thema 17. Juni. Und merkwürdig, was einer Familiengeschichte aus der Provinz, einer dramatisch aufgezäumten Love-Story aus dem brodelnden Ost-Berlin und einer ironisch grundierten Schilderung der weltpolitischen Rankünen nicht recht gelang, schaffen die Autoren dieses Films, Artem Demenok, 41, und Andreas Christoph Schmidt, 46: die tragische Vergeblichkeit des Aufstands fühlbar zu machen. Die Statements der beteiligten Zeitzeugen, das historische Archivmaterial, Fotos vom Aufstand und erstmals gezeigte 35-mm-Aufnahmen vom Geschehen in Leipzig verdeutlichen das verwirrend Spontane der Erhebung, die sich jeder monokausalen Erklärung entzieht. Erschütternd, was eine Frau, deren Mann als Rädelsführer des 17. Juni in DDR-Haft kam und der an den Folgen zerbrach, über ihre Empfindungen bei der Wiedervereinigung 1990 sagt: "Ich habe gedacht, hätte das nicht 1953 so sein können."

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2003, Nr. 137, Seite 39
Der Film im Koffer
Menschen in Aufruhr gegen das Regime: „Helden ohne Ruhm"
von Regina Mönch

Was war der 17. Juni 1953? „Ein Volksaufstand", sagt Ingrid Eckhardt heute, damals Technische Assistentin im Stahlwerk Hennigsdorf, und man spürt, dass sie das nie anders gesehen hat. Eine frühere Oberreferentin im Ministerium von Margot Honecker beantwortet die Frage ganz anders, doch genauso fest: „Gegen dieses Wort melde ich meine Zweifel an." Die Referentin lauschte, als das Volk - dazu gehörig Ingrid Eckhardt - auf der Straße den Sturz der Regierung forderte, im Berliner Admiralspalast den Worten ihres Großen Vorsitzenden Walter Ulbricht. Aus diesem Gedankengefängnis hat sie nie ausbrechen wollen. Ihre Zweifel bleiben dem Zuschauer so fremd wie Arbeiterlogik den damals Herrschenden.

Artem Demenok und Andreas Christoph Schmidt lassen in ihrem bemerkenswerten Dokumentarfilm „Helden ohne Ruhm" vor allem die Zeugen erzählen, was damals vor fünfzig Jahren geschah und wie sie das heute beurteilen. Opfer und Täter, zufällig Beteiligte und Streikführer, Arbeiter, Angestellte, ein Förster, ein Dorffrisör, Funktionäre, eine Fotografin und drei ehemalige sowjetische Offiziere kommen zu Wort. Ihre Erzählungen sind Eingebettet in die Wochenschau-Ausschnitte dieses historischen Jahres, und nur an den Kommentaren der jeweiligen Sprecher erkennt man, für welches Publikum die Bilder einst bestimmt waren - für das im Westen oder das im Osten. Es ist der Ton des Kalten Krieges, den westlichen kann man ertragen, den ins Groteske gesteigerten der SED-Propaganda nur schwer. In neunzig Minuten entfalten die Autoren ein Panorama dieser fernen Zeit, wie es nur wenigen bisher gelungen ist. Berlin ist das Zentrum, wo sich der Funke des Aufruhrs entzündete, der in vierundzwanzig Stunden ein ganzes Land erfasste und den nur die Panzer der Sowjets niederschlagen konnten - sonst hätte er damals die Welt verändert. Aber das konnte nicht sein , den durch Berlin verlief auch die Frontlinie zwischen der Ostwelt und der des Westens.

Das „Volk" im Osten hatte sich, obwohl aus guten Gründen, zur Unzeit erhoben, es störte nicht nur die SED und ihren Terrorapparat. Es störte leider auch die Weltgeschicke, die gerade begannen, sich einzulassen auf die Ost-West-Teilung für ein halbes Menschenalter. Welchen Preis dafür Millionen zahlten, deren Hoffnung auf das bessere, das richtige Leben unter den Ketten der Panzer begraben wurde, lassen die Schicksale der Zeitzeugen erahnen. „Wissen Sie, als dann dieser, wie sagt man - Umsturz - kam, da dachte ich, ich drehe durch", sagt Hedwig Othma, die Witwe eines Bitterfelder Streikführers, in die Kamera. Sie meint 1989 und fragt verzweifelt: „Hätte es nicht schon damals sein können? Es sind doch wohl viele, die so unglücklich waren wie ich."

Ihr Mann, ein Elektromonteur, den seine Kollegen mochten, der gut reden konnte, und den sie deshalb auswählten, ihre Forderungen vorzulesen, wurde wegen „Boykotthetze" und als faschistischer Provokateur" verhaftet. Er musste zu so einem zurechtgelogen werden, damit die SED ihre Welt wieder vom Kopf auf die Füße stellen konnte. Othma hätte, als die Russen kamen, fliehen können, wie die anderen vom Streik-Komitee. Aber Othma blieb. Er habe sich ohne Schuld gefühlt, sagt seine Frau, bis zum Schluss. Er war auch ohne Schuld, wurde trotzdem zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt und saß davon elf unter Bedingungen ab, die denen der Nazis nur wenig nachstanden. Nach elf Jahren kam er frei, als kranker, gebrochener Mann, er starb vier Jahre später. Fast nebenher erzählt seine Witwe, was diese Jahre für sie bedeuteten. Das Sparbuch, der Lohn und aller Besitz wurden beschlagnahmt. Ihr Mann habe doch den Schadenbezahlen müssen, sagt Hedwig Othma, der entstanden war, als Zehntausende streikten. Das Haus wurde ihr weggenommen, „da zogen andere ein".

In diesem kleinen Detail steckt das Unglück so vieler, es zeigt aber auch, wer im Juni 1953 und später verlor und wer gewann. Jene, die damals mit dem Besitz der außer Landes Getriebenen und der Verhafteten belohnt wurden, sie hatten jahrzehntelang triftige Gründe zu schweigen und die von der SED verordneten Schmutzlegenden weiterzutragen.

Der üble Fluch, mit Faschisten gemeinsame Sache gemacht zu haben, hat im Kernland des institutionalisierten Antifaschismus wesentlich dazu beigetragen, dass auch Nachgeborene so lange nicht wagten nachzufragen, was denn wirklich geschehen war. Demenoks und Schmidts Film dokumentiert auch den Fall Erna Dorn, einer vorgeblichen KZ-Aufseherin, die jedoch nur auf Grund von Selbstbezichtigungen verurteilt worden war. Die neusten Forschungsergebnisse - die der Film vorstellt - belegen, dass es sich bei Erna Dorn um eine geistig verwirrte Frau mit unklarem Vorleben handelte. Sie wurde, um die Inszenierung vom „faschistischen Putsch" durchzusetzen, zur Nazisse hochstilisiert, obwohl es an jedem Beweis dafür fehlte. So gesehen ist ihre Hinrichtung - nach nur zehn Tagen hatte das Urteil im Eiltempo alle Instanzen passiert - ein Justizmord gewesen.

Der 17. Juni ist das wahrscheinlich am besten und gründlichsten erforschte historische Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Die Zahl der neuen Bücher hat fast inflationäres Ausmaß, doch lohnt die Lektüre fast jeder Neuerscheinung. Sie sind die Begleitbände zu den Filmen, den Radiosendungen, den unzähligen Zeitzeugengeschichten, die man seit einigen Wochen endlich zu hören und zu sehen bekommt. Sie dokumentieren akribisch mit Justiz-, Partei- oder Stasiakten, dass das, woran sich einzelne erinnern, wahr ist, auch wenn viele diese Tatsache immer noch nicht anerkennen wollen. Jede Lüge wird so demaskiert, und die Bücher sind, wie der Film „Helden ohne Ruhm", nicht nur Aufklärungswerk im besten Sinne, sondern auch späte Wiedergutmachung für Tausende zu Unrecht Verleumdete.

Es gibt viele Gründe, sich diesen Film anzuschauen, einer wäre hervorzuheben: Der kurze Streifen eines besessenen Amateurfilmers aus Leipzig über diesen Tag im Juni 53 ist einzigartig. Er öffnet uns, den Zuschauern, zum ersten Mal das Fenster in die Provinz. Bisher galt: Nur in Berlin konnte damals gefilmt werden, die Kameras der West-Berliner Berichterstatter standen an der Sektorengrenze der geteilten Stadt. Alles, was anderswo aufgenommen wurde, so glaubte die Stasi, habe sie beschlagnahmen können, bevor diese Bilder öffentlich wurden. Aber das Leben geht eigensinnige Wege, und der Leipziger Fotograf wurde nie erwischt. Er hatte seinen Film versteckt, und dann wurde der Mann, wie seine Nichte im feinsten Sächsisch berichtet, fünfundsechzig Jahre alt: „Das war bei uns hier ein magisches Datum, da konnte man dann in den Westen fahren." Der Pensionär packte also seinen Koffer und in diesen die kostbare Filmrolle. Warum die dann noch einmal zwanzig Jahre auf einem hessischen Dachboden einstauben musste, ist ein Rätsel; sie entdeckt zu haben, das ist das Verdienst der Autoren.

In „Helden ohne Ruhm" (was eigentlich nicht mehr stimmt) sehen wir deshalb endlich, wie Menschen aussehen, die glauben, ihre verhasste Regierung erfolgreich zum Teufel gejagt zu haben: glücklich. Fröhlich winkend, ziehen sie mit Kind und Kegel, ihre Fahrräder schiebend, an den Ruinen Leipzigs entlang.

Hätte es also nicht doch schon damals soweit sein können, als so viele Menschen glaubten, im Glück der Freiheit angekommen zu sein?


Frankfurter Rundschau, 16. Juni 2003
Nüchterner Blick
Arte zeigt dokumentarische Fleißarbeit zum 17. Juni

Von Heike Mundzeck

"Helden ohne Ruhm", Arte, 22.05 Uhr. Kein historisches Ereignis seit Kriegsende hat die deutschen Medien im jeweils fälligen Rückblick so ergriffen und besetzt wie der 17. Juni 1953. Im Westen als "Volksaufstand" oder "Freiheitskampf" gefeiert, in der ehemaligen DDR als "faschistischer Putsch" diffamiert und totgeschwiegen, bekam der nicht organisierte Protest der Arbeiter gegen die Erhöhung der Norm bei weniger Lohn und Mangel an Material innerhalb weniger Stunden eine Dimension und Dynamik, die Entscheidendes erhoffen und erwarten ließ: den Sturz der DDR-Regierung, freie Wahlen und Wiedervereinigung.

Dass es anders kam, ist Geschichte und bekannt. Was jedoch im Einzelnen geschah, eröffnet durch Aussagen von Zeitzeugen und direkt Betroffenen immer wieder neue Perspektiven und Erkenntnisse. Denn mit "Helden ohne Ruhm", einer Gemeinschaftsproduktion von ARD und Arte unter Federführung des Rundfunk Berlin Brandenburg, legen Artem Demenok und Andreas Christoph Schmidt eine beachtliche dokumentarische Fleißarbeit vor, die - nach zwei Fernsehspielen in der ARD und einer ausführlichen Spiel-Dokumentation im ZDF zum gleichen Thema - zweierlei besonders deutlich macht: Der "17. Juni" war nicht nur ein Aufstand der Bauarbeiter aus der Berliner Stalinallee, sondern riss das Volk in mehr als 500 Städten und Ortschaften der DDR mit - und aus dem ungesteuerten und nur anfangs disziplinierten Protestmarsch wurde mancherorts eine tumultartige Gewaltorgie des Mobs mit Lynchjustiz, Plünderungen und Brandstiftung.

Versetzt das dem Image des "Freiheitskampfs" eine Schramme ? Sollen wir heruntergeholt werden von unserer tragikumflorten Bewunderung für die "Helden ohne Ruhm" ? Gewiss ist es ehrlicher, sich 50 Jahre danach den nüchternen Fakten zu stellen und auch die dunklen Seiten dieser Explosion aus Unzufriedenheit, Unterdrückung und Zwangswirtschaft zu beleuchten. Und das erreichen die Aussagen der Dabeigewesenen: der Akteure, Zufallsbeteiligten und Zuschauer wie auch der als "Rädelsführer" Bestraften - und der Regimeverteidiger. In detaillierten, notgedrungen subjektiv gefärbten Einzelaussagen entsteht ein nochmal differenzierteres Bild von den Geschehnissen des 17. Juni. Menschen und Ereignisse aus Berlin und Bitterfeld, Leipzig, Halle, Görlitz, Magdeburg, aus Jena, Zodel und Rathenow, belegt mit Interviews, Filme und Fotos (und leider wieder einmal übermäßig dramatische, ja störende musikalische Begleitung) fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen, das einen etwas anderen Blick auf das bekannte Drama zulässt.

Das waren ganz gewöhnliche Menschen, die damals ihre Rechte einforderten und nicht ahnten, wie grauenvoll sie dafür büßen sollten. Da ist nicht nur von der anfänglichen Begeisterung, den Demonstrationszügen, auch durch die Westsektoren-Stadtteile Tegel und Wedding, die Rede, sondern ebenso von der Rachejustiz der Sowjets und ihrer DDR-Paladine, von selbsterlebten Folterungen und jahrelangem Zuchthaus, von Bespitzelung, Schikanen und Verfolgung oft bis zur bitteren Neige einer frühzeitigen Zerstörung von Gesundheit und Leben. Und von vollstreckten Todesurteilen. Persönliche Schicksale, die nichts Heldenhaftes haben.

Der Nachteil dieser subjektiven Bilanz: Wer wenig weiß über die politischen Hintergründe des Ereignisses - die Situation im Politbüro, die Rolle und Absichten der Sowjets, das Verhalten der Amerikaner, die Reaktion der Bundesrepublik - erfährt auch vom Kommentator nur wenig und Bruchstückhaftes, zumal die Quellenlage nicht immer eindeutig ist. So bleibt die Sammlung der Bilder und Stimmen ein Mosaik, das allein dem komplexen Vorgang nicht gerecht werden kann. Aber es gab - und gibt - ja eine so große Anzahl von Informationssendungen zum Thema auf allen Kanälen in Bild (Fernsehen) und Ton (Rundfunk), dass jeder sich nach seinen Bedürfnissen ausreichend zu informieren vermag.

Der Tagesspiegel, 16. Juni 2003, Nr. 18150, Seite 31
Totgeschwiegen - totgefeiert
„Helden ohne Ruhm": Weitere TV-Filme zum 17. Juni 1953
von Mechthild Zschau

Ein strahlendes junges Mädchen hält eine Tafel hoch: „Nieder mit der Regierung" steht darauf in Krakelschrift. Das war in Leipzig. Dass es beim spontanen Aufstand am 16. und 17. Juni 1953 nur um Proteste gegen Normerhöhungen ging, gehört ins weite Land der Legenden. Ebenso wie die Mär, allein in Ost-Berlin seien die Arbeiter auf die Straßen gezogen und die sowjetischen Panzer gegen sie aufmarschiert. Tatsächlich entzündet sich zwar der Funke an den Großbaustellen in Friedrichshain und an der Stalinallee, setzt aber schnell die ganze DDR in Brand. Nach Bitterfeld und Rathenow, nach Halle, Jena, Magdeburg und Görlitz schwenkt die Kamera, während die Uhr läuft und sich von Stunde zu Stunde das Gesicht jenes Streiks, der vielleicht gar eine Revolution war, verändert, die Ereignisse an Tempo und Dramatik gewinnen. Die Herrschenden im Lande und in der Sowjetunion schauen starr vor Schrecken auf jenes Volk, das sie so selbstbewusst, so mutig nicht gewollt, nicht erwartet haben.

Wenn Artem Demenok und Andreas Christoph Schmidt in die Geschichte vor 50 Jahren eintauchen, entfaltet sich ein tiefenscharfes und personenreiches Panorama jener zwei Tage, die in der DDR in der Zeit danach totgeschwiegen, in der Bundesrepublik totgefeiert wurden. Am Anfang steht ein Propagandafilm in Agfacolor, der von Arbeitslosigkeit im Westen kündet und von Massenfluchten in den Osten. Am Ende laufen Schauprozesse gegen West-Berliner, wird berichtet von Folter, Deportation, Todesurteilen. Amüsiert oder noch immer bitter erinnern sich Zeitzeugen an jene kleinen, mal grotesken, mal tragischen Szenen, aus denen sich ein historisches Ereignis zusammensetzt. Dazwischen erscheinen die authentischen Bilder, Fotos, Filme, gar ein neu aufgefundenes Super-8-Privatdokument aus Leipzig: junge Gesichter, vor Euphorie und Hoffnung auf Freiheit und Demokratie leuchtend in den Straßen, wechseln ab mit alten Gesichtern, steinern in ihrer ratlosen Machtfülle. Die Rolle des Westens bleibt so marginal und undurchsichtig, wie sie wohl wirklich war.

Die Filmemacher erzählen die Geschichte entschieden von innen heraus, von dort aus, wo sie entstand: den Demonstranten gehört ihr Herz, jenen, denen niemand sagte, was sie tun sollten, die ihre Redner spontan beriefen, die keine Rädelsführer kannten. „Helden ohne Ruhm" ist ein engagierter Dokumentarfilm, der endlich denen Gerechtigkeit verschaffen will, die bisher unsichtbar und namenlos blieben.

Nur - brauchen wir wirklich neue Heldengeschichten? Muss dieses packende Geschehen unbedingt mit den pathetischen Klangkaskaden von Schostakowitsch (von denen nur Musikexperten wissen, dass sie nicht so sozialistisch-realistisch gemeint sind, wie sie vordergründig klingen), so aufgeladen werden, dass sich die leuchtenden jungen Leute in eherne Helden-Denkmäler verwandeln? Haben die Produzenten nicht gemerkt, dass sie die Glaubwürdigkeit ihres Werkes infrage stellen?


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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003