Teil 1 von 4

Prag 1968. Sowjetische Panzer beenden den Prager Frühling, Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Budapest 1956. Machtwechsel für dreizehn Tage.
Bis zum Einmarsch der Sowjets. Tausende Tote.

Berlin 1953. Panzer beenden einen - ja was? Einen Streik, Aufstand, Putschversuch?

Ingrid Eckhardt: Ein Volksaufstand, wie er noch nie da war.

Marianne Berge: Gegen dieses Wort melde ich einige Zweifel an. 

Werner Barfus: Das war ein Arbeiteraufstand.

Günter Schabowski: Ein Faustschlag für die Partei.

Annegret Stephan: Ein Phänomen und eines der wichtigsten Ereignisse in dieser DDR.

Wolfgang Schaefer: Kann man die beschreiben, die DDR?

So beschreibt die DDR sich selbst. 1951. In Agfa-Color.

Kommentar Filmausschnitt: „Im August, im August blühen die Rosen." Mit diesem Lied zogen die Jungen und Mädchen Berlins zu den Bauplätzen.
So schnell sind bei uns noch nie Bauten gewachsen.
Das Brandenburger Tor. Dahinter beginnt Westberlin. Hier beginnt das Reich der Sturmpolizei, des amerikanischen Dollars, der amerikanischen Soldateska, der Gangster und Börsenjobber. Hier ist kein Platz für die großen, menschlichen Ideale, die die friedliebende Jugend begeistern. Seht sie euch an, diese kläglichen Figuren.


Im Osten dagegen: Fröhliche Parade.

Kommentar Filmausschnitt: „Trinkt Coca Cola!", schreit die amerikanische Reklame. „Coca Cola stimmt heiter und macht Lust zum Lachen!" Aber Westdeutschland hat das Lachen verlernt. Diese Freiheit brachte sie den Westberlinern. Die Freiheit Tag für Tag in trostlosen Schlangen vor den Arbeitsämtern zu stehen.

Solch ein Elend, da hilft nur die Flucht. Aber:

Kommentar Filmausschnitt: Schwer wird es ihnen gemacht, von Deutschland nach Deutschland zu gehen. Amerikanische Panzerwagen und deutsche Söldner machen Jagd auf junge Menschen.

Die Jugend flieht von West nach Ost. Walter Ulbrichts verkehrte Welt.

Kommentar Filmausschnitt: Endlich in Sicherheit. 

O-Ton Walter Ulbricht: In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft, aus anderen Kreisen der Werktätigen, hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der zweiten Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.

Zweite Parteikonferenz der SED, Juli 1952. Planmäßiger Aufbau des Sozialismus bedeutet: Weg mit dem Rest privater Wirtschaft. Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in LPG´s. Aufbau der Schwerindustrie unter Parteikommando - alles nach dem Vorbild der Sowjetunion in den dreißiger Jahren.

O-Ton Zwischenruf: Das Zentralkomitee unserer Partei, es lebe hoch, hoch, hoch.

Günter Schabowski: Die Menschen, die Bewohner der DDR in ihrer Überzahl, die Masse, die Menge, wie das sozusagen im offiziellen Vokabular hieß, die war also nicht für voll zu nehmen, sie war sich ihrer eigenen Interessen gar nicht bewusst. Wir, und dadurch hoben wir uns wieder heraus, bei aller Unterwürfigkeit, die wir gegenüber der Besatzungsmacht sozusagen verspürten, hoben wir uns wieder heraus, als etwas Besonderes. Wir wurden jetzt zu den Präzeptoren dieser Masse, indem wir also durch die Propagierung des Sozialismus und des Marxismus, wo immer, jeder in seinem Bereich, mit seinen Mitteln, ihre eigene Lage, ihre bewusst machten.

DEFA-Wochenschau vom Januar 53.

Kommentar Filmausschnitt: Die Stalinallee in Berlin, Symbol für den Aufbau des Sozialismus. Ohne viel Bedauern wurden Zimmer geräumt, die bisher allzu engen Wohnraum boten. Zum letzten Mal geht es die alte Treppe hinunter und ab. Die Stalinallee wartet schon auf ihre neuen Einwohner.

Zum Beispiel Heinz Homuth.

Heinz Homuth: Ich war damals Zimmerer-Brigadier. Wir haben von Anfang an E-Süd hochgezogen, und einige von uns wurden ausgezeichnet als Aktivisten. Und dann hieß es: Wer eine Wohnung haben möchte, von den Aktivisten, der kann das beantragen. Wir haben damals in Untermiete gewohnt. Da hab' ich gedacht: Versuchste mal -  und hat geklappt. Die Firma hat den Umzug bezahlt, und die Wochenschau, DEFA, hat gefilmt.

Kommentar Filmausschnitt: Heinz Homuth hat selbst am Block E-Süd gearbeitet und wurde als Aktivist ausgezeichnet. Viel Glück im neuen Heim!

Aber dann kam der 17. Juni. Und der Aktivist machte mit.

Heinz Homuth: Tja, ich hatte leider nur fünf Monate, oder waren es vier Monate, da drin gewohnt, mit schönem Bad, Fahrstuhl, Zentralheizung - war alles futsch, weil ich dann nach dem Westen gegangen bin.

Kommentar Filmausschnitt: Werktätige Menschen ergreifen Besitz von dem, was sie sich selbst geschaffen haben.

5. März 53. Stalin ist tot.

Die DDR-Führungsriege am Sarg.

Wie soll es jetzt weitergehen? Der König ist tot, es lebe der König. Aber welcher König? Noch ist unklar, wer Stalins Nachfolge antritt, welcher Kurs eingeschlagen wird. Eine lebenswichtige Frage auch für die deutschen Genossen.

Günter Schabowski: Die Partei, die an diesem Faden hing, die SED, können Sie sich ja vorstellen, die verspürte, der Faden ist nicht mehr straff, der fängt an zu bammeln: Ja, sind wir überhaupt noch dran? Aber sie wussten auch, nur wenn der Faden da ist, sind die Nährströme möglich, die sie empfangen kann. Also eine Unsicherheit.

Ulbricht blieb - äußerlich unerschüttert - auf Stalin´scher Linie. Er hatte die Arbeitsnormen in allen Betrieben um mindestens zehn Prozent heraufsetzen lassen. Für viele hieß das: ein Drittel weniger Geld in der Lohntüte. Glaubt man der Propaganda, war das ganze Land darüber begeistert.

Kommentar Filmausschnitt: Im Stahl- und Walzwerk Riesa werden durch Verbesserungen der Arbeitsorganisation und weitgehende Mechanisierung ständig die Normen erhöht. Diese Steigerung der Arbeitsproduktivität ist beispielhaft für unsere ganze Republik.

Moskau, Mai 1953. Bei aller wirklich empfundenen Trauer über Stalins Tod - eine gewisse Erleichterung war doch allem und allen anzumerken. Sogar denen auf den Kremlmauern.

Kronprinz Malenkow, links, und  - mit Hut - Innenminister Berija. Beide hielten sich für Stalins Nachfolger, aber Berija hatte nicht mehr lang bis zu seiner Hinrichtung. Und Malenkow wurde bald in die zweite Reihe gestellt.

Die Herrn im Kreml hatten Kummer wegen der DDR. Wenn Ulbricht so weitermacht, wird ihm das Volk davonlaufen, das Land wird zusammenbrechen. Der „Tag X" wird kommen, und die Amerikaner werden an der Oder stehen.

2. Juni. Ulbricht und Grotewohl sind  nach Moskau zitiert worden. Ahnen sie, was sie erwartet? Berija soll zuvor gesagt haben: „Wir brauchen ein friedliches Deutschland, ob es sozialistisch ist oder nicht, ist egal." Am zweiten Tag präsentieren die Deutschen dem Kreml ein selbstkritisches Papier, das Nachbesserungen an Ulbrichts Sozialismus vorsieht.

Günter Schabowski: In dieser Sitzung werden die deutschen Genossen also beschimpft, abgekanzelt! Also, dass sie einen zu radikalen Kurs eingeschlagen hätten. Und die sind so feige und knechtisch, das die nicht sagen: „Aber ihr Penner, ihr habt uns doch das selber oktroyiert, dass wir das machen, und jetzt stellt ihr euch hin und tut so" ... Nein, man zitterte, man war verunsichert.

Grotewohl hat mitgeschrieben:
Malenkow: Alles muß ausgehen von der Änderung der Verhältnisse in der DDR.
Berija: Wir alle haben Fehler gemacht.
Molotow: So viele Fehler, darum so korrigieren, dass ganz Deutschland es sieht.
Chruschtschow: LPG. -  Größte Freiwilligkeit.
Berija: Rasch und kräftig korrigieren. Und euer Dokument könnt Ihr wieder mitnehmen.
Kaganowitsch: Das Schlimmste ist die Republikflucht.
Malenkow: Wenn wir jetzt nicht korrigieren,…
…kommt eine Katastrophe.

Abschied am Flughafen Vnukovo. Ministerpräsident Grotewohl, Parteichef Ulbricht und Gefolge. Da wird das Lächeln sauer. Zuletzt und bescheiden der wichtigste Mann: Wladimir Semjonow, neuer Hochkommissar in der DDR. Soll aufpassen, dass die deutschen Genossen keine weiteren Fehler machen.

Sie machen einen Fehler. Zugeständnisse an Bauern und Gewerbetreibende, langsamerer Schritt, wie die Russen verlangten, das ja. Dazu Selbstkritik der SED, beinahe eine Art Frühlingshauch wie in Moskau. „Neuer Kurs" hieß das. Aber die erhöhten Arbeitsnormen bleiben. Die Russen hatten ja gegen die Normerhöhung nichts gesagt.

Stahlwerk Hennigsdorf bei Berlin. In die verordnete Begeisterung mischt sich ein Grollen.

Es begann scheinbar harmlos. Auf einer Baustelle in Berlin. Bauarbeiter, Vorarbeiter eigentlich, Brigadiere, am Neubau des Krankenhauses Friedrichshain, nutzten einen Betriebsausflug mit Dampferfahrt, 3 Mark Unkostenbeteiligung, Getränke extra, zur Meuterei.

Gerhard Reimann: Wir sind mit zwei Schiffen von der Jannowitzbrücke aus in Richtung Grünau, ich weiß es jetzt nicht mehr genau, rausgefahren. Im vorderen Bereich waren vorwiegend die Brigadiere mit ihren Frauen und im hinteren Bereich war die Bauleitung und das Büropersonal. Wir sind dann in das Ausflugslokal gekommen, haben dort getanzt, getrunken und gegen Ende dieses Vergnügens ist dann einer der Brigadiere auf den Tisch gegangen und hat laut verkündet, dass ab Montag, den 15. gestreikt wird. Ich hab' letztendlich diese ganze Sache nicht so ernst genommen, obwohl gleich da drauf  unser Bauleiter Röpke auch auf den Tisch gegangen ist und sagte: „Ihr könnt doch nicht streiken. Es ist doch ein Streik gegen Euch selber. Ihr seid ein volkseigener Betrieb und wenn er Euch gehört, würdet ihr ja gegen euch selber streiken".

Am 15 Juni stand die Baustelle still. Streikversammlung auf dem Baugelände.

Gerhard Reimann: Während dieser Gesamtversammlung haben dann also die höchsten Funktionäre versucht, den Leuten klar zu machen, dass es erforderlich ist, dass die Normerhöhung in jedem Fall durchgesetzt werden müsste, und es praktisch so wäre, dass hier zwar gestreikt würde, dass man sich aber ein Beispiel an den Kollegen der Stalinallee nehmen sollte, die Stalinallee war etwa zehn Minuten Fußweg, Großbaustelle, damals Demonstrationsobjekt. Und die würden nicht streiken, wie hier ihr auf dieser Baustelle. Und in diesem Moment standen dann zwei, drei, weiß nicht mehr genau, Maurer, Zimmerleute oder was sie waren, auf und sagten: „Nein meine Herren, wir kommen von der Stalinallee und wir streiken auch".

Stalinallee, die stolzeste Baustelle der DDR. Auf den Gedanken, dass die hier streiken würden, wäre keiner gekommen.

Heinz Homuth: In dem Haus, wo ich wohnte, war auch ein Putzer-Brigadier vom Block 40. Und der sprach mich an am 15. Juni: Wir wollen morgen protestieren gegen diese Normerhöhung und ob ich mit meinen Jungs da mitmache. Ich hab alles mobilisiert, die Maurer, Fliesenleger, Steinmetze...

Gerhard Reimann: Und am nächsten Tag war es dann so, - das war der 16., - waren unsere Leute nach wie vor am Streiken und der Krankenhausdirektor hat die Tore geschlossen, damit unsere Bauarbeiter nicht in die Öffentlichkeit kommen, aus der Baustelle herausgehen. Da hieß es, die Leute von der Stalinallee haben das mitgekriegt, die kommen zu uns rüber und werden euch sozusagen befreien.

Heinz Homuth: Es sah so aus, als wenn sich das ganze auflöst und in nichts übergeht. Aber in dem Moment kam ein Mann in Maurerkluft, er war vom Krankenhaus Friedrichshain, auch dieselbe Firma, die in der Allee gebaut hat, der sagte: „Wir wollen auch hier mit euch demonstrieren, aber die VOPO hat alles abgesperrt. Lässt keinen raus", sagt er, „ick bin über die Mauer". So, und da erscholl der Ruf: „Wir holen unsere Jungs raus!", und so kam es zum Marsch der Bauarbeiter von der Stalinallee.

Manfred Seidel: Eine Führungsspitze in dem Sinn hat's nicht gegeben, wir sind eben losgezogen, und die Bauarbeiter vom Strausberger Platz, die hatten dann schon Transparente mit. Und am Bahnhof Frankfurter Allee kam es dann zu den ersten Rangeleien, ich nehme an, dass die Kreisleitung der SED gesagt hat, „geht doch mal hin und beruhigt die Leute".
Die haben sich aber nicht beruhigen lassen, und es kam dann dazu, dass viele Genossen - ich will nicht sagen, dass sie Angst hatten, aber sie haben dann ihre Abzeichen abgemacht und haben sie leise fallen lassen, damit sie nicht in die Rangeleien verwickelt werden. Und der Zug bog dann am Bahnhof Frankfurter Alle ab, und da hatten wir dann den zweiten Kontakt mit der VP. Und die haben dann aus meinem näheren Umfeld Leute verhaftet und haben sie auf Mannschaftswagen verfrachtet, und das haben wir uns dann nicht gefallen lassen und haben sie dann wieder runtergeholt.

Großes Wandbild am Haus der Ministerien, Sitz der DDR-Regierung, ehemaliges Reichsluftfahrt-, heutiges Finanzministerium. Dies war die Arbeiterklasse. Wie die Partei sie sich wünschte.

Und dies war die Arbeiterklasse, wie die Partei sie sich nicht vorstellte.

Am 16. nachmittags war sie hier, vor dem Haus der Ministerien.

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