Teil 3 von 4

Rathenow an der Havel.

Bernd Rabehl: Ich hatte mir gerade mein Fahrrad gekauft, ein Diamant-Fahrrad, und war ganz stolz drauf. Als Junge... Und hatte immer Angst, dass in diesem Trubel mir mein Fahrrad abhanden kommen würde. Deshalb ist dieser 17. Juni für mich auch verbunden mit dem Schutz dieses Rades. Ich ging nie zu dicht ran, war dann aber doch immer dicht dran, entfernte mich vom Pulk der Menschen, umkreiste die Demonstration und habe deshalb viel gesehen. Aber mir fehlen auch wiederum Momente der Ereignisse, weil ich dabei war, mein Rad zu schützen.

Ursula Jautzke: Am Vormittag schon war die ganze Stadt voller Menschen, ein Traktor stand auf dem Platz vor dem Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, und da drauf standen junge Leute und schrieen „Weg mit dem Spitzbart!" Mir war es erst nicht klar, wer damit gemeint war, aber dann kam es so langsam hoch, dass es ja natürlich Walter Ulbricht  war. Plötzlich rief jemand : „Da ist Hagedorn! Schlagt ihn tot, das Schwein!"- oder so Ähnliches  -  und dieser Mann rannte in ein Kaufhaus. Da mein Vater zu der Zeit, während der Stalinschen Säuberungen, inhaftiert war, und ich hörte „Stasi-Spitzel", rannte ich mit. Und da sagte ich, jetzt, das ist die Rache, dieser Mann kriegt das jetzt, was er uns allen angetan hat.

Wilhelm Hagedorn war nach dem Kriege Dienststellenleiter der Politischen Polizei in Rathenow. Angeblich brüstete er sich, er habe mehr als 300 Faschisten und imperialistische Agenten ans Messer geliefert. 1951 war in einer Sendung des RIAS vor dem Spitzel Hagedorn gewarnt worden.

Ursula Jautzke:
Der Mann wurde aus dem Kaufhaus gezerrt und alles schlug auf ihn ein. Und dann wurde er - die Reihenfolge weiß ich nicht mehr - es war nur so, man schrie: „Hängt ihn am Tor der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft auf!". Das habe ich nicht gesehen, ich habe nur gesehen, wie man ihn wieder runterholte und zur Havel brachte und in die Havel warf. Und zwischendurch sah ich mal nur seinen Kopf, dieses Menschen, und es war natürlich furchtbar,  er ist regelrecht zertrümmert worden, und die Augen hingen ihm aus dem Kopf. Später habe ich mir überlegt, wie kann so was sein, wie kann ein Auge aus dem Kopf  treten, und mein Mann erzählte mir, dass so was nur passiert, wenn ein Schädel total zertrümmert ist.

Bernd Rabehl: Auf der anderen Seite steht schon die Polizei und will ihn sozusagen retten, er wird tatsächlich von der Polizei gerettet, wird dann ins Krankenhaus gefahren und im Krankenhaus sagt er seinen Mitarbeitern, damals schon Staatssicherheitsdienst, also nicht mehr K5, die Namen derjennigen, die ihn gelyncht haben, und dann stirbt er erst.

Einer Krankenschwester zufolge sagte Hagedorn vor dem Tod: „300 waren noch viel zu wenig."

Ein Arzt dagegen: Seine letzten Worte seien unverständlich gewesen, allerdings habe er mehrfach den Namen „Betty" gehört. Seine Stieftochter.

Berlin, kurz nach zwölf. Sowjetische Panzer rollen. Zum erstenmal seit dem Krieg. In der ganzen DDR. Auch in Magdeburg.

Annegret Stephan: Furchtbarer Lärm, furchtbarer Staub, furchtbare Gewalt. Und wir sind - ich bin ein Kind, was Nachkriegszeit erlebt hat - aber  mit diesen Berichten der Erwachsenen bin ich doch großgeworden. Und was ein Panzer war, das war sehr deutlich. Das war Vernichtung. Das war Tod. Und genau das, so empfunden haben wir - habe ich's dann auch und ich glaube  viele meiner Kameraden auch - jetzt kommt der Tod.

Vom Aufstand in Magdeburg gibt es nur wenige Bilder. Hierher sahen die Westkameras nicht. Demonstranten dringen in den Hof der Volkspolizei ein. Sie versuchen, Gefangene zu befreien. Später werden sie von sowjetischen Panzern vertrieben.

Leonid Kisljakow: Bis Magdeburg waren es 20 Kilometer. Wir fuhren auf der Landstraße. Die Straßen in Deutschland sind sehr gut und so ging es flott dahin.
Wir - d. h. unsere Mädchen brachten unsere Wäsche immer in die Magdeburger Wäschereien. Und uns entgegen kommt so ein Auto, und wir müssen anhalten: „Wo wollt ihr hin?" Wir: „Was ist´n los?"  Und sie sagen: „Die Deutschen haben Revolution, wie wir 1917." -  „Was für eine Revolution? Wieso?! Weshalb?!" Wir lachten und fuhren weiter. Als wir aber nach Magdeburg kamen, sahen wir in der Tat - zwar keine Revolution, Menschenmassen auf den Straßen. Lärm und Geschrei. Und als Oberstleutnant Iwanow weiterfahren wollte - er fuhr uns in seinem Willis-Jeep voraus - flogen von allen Seiten Steine. Da gab er Befehl, ein paar Salven über die Köpfe hinweg abzufeuern. Ich glaube, das war richtig. Sonst wäre er in Stücke zerrissen worden in seinem offenen Willis. Wir in den Panzern waren ja sicher. Wir gaben ein paar Salven ab, über die Köpfe hinweg; in einigen Häusern flogen die Fenster `raus. Husch husch, und alle liefen in die Büsche.
Ein Teil unserer Einheit besetzte nun den Bahnhof, ein anderer das Postamt und das Rundfunkgebäude. Nach und nach kamen Deutsche und begannen mit uns zu sprechen. Aber erklären, was eigentlich los war - wir verstanden es ja selbst nicht. Wir hatten geglaubt, wir sollten die Westgrenze sichern. Darauf waren wir eingestellt, als wir ausrückten. Wir glaubten, wir seien von dort angegriffen worden. Statt dessen kam etwas völlig Unverständliches.


Ab 13.00 herrscht in Berlin der Ausnahmezustand.

Klaus Gronau: Dieser Bauarbeiter - den habe ich dann noch am Lustgarten gesehen, als ich flüchtete, türmte aus Angst, der lag auf der Erde, der war überfahren worden von einem Panzer, und seine Stullenbüchse war platt wie eine Briefmarke. Und ich hatte Angst damals, große Angst.

Konstantin Garin: Ich war auf dem Rückweg aus Rußland und kam in Frankfurt an der Oder an. Es war dort irgendwie still. Ich musste nach Cottbus. Und in Cottbus bin ich ganz allein am Bahnhof. Ich sehe mich um. Überall unsere Panzer in Stellung. Ich frage einen Soldaten: Was ist denn hier los? Und er sagt: Die Deutschen machen einen Aufstand. Sie wollen uns rauswerfen. Jetzt haben wir sie eingekesselt.
Als ich nach Großenhain kam, ging ich zum Friseur. Da arbeitete ein Tscheche. Drei Frauen und zwei Männer waren da, sie sprachen miteinander Deutsch. Der Tscheche fragt mich in schlechtem Russisch: Wollen Sie rasiert werden? Und ich antworte auf Deutsch:
„Ich rasiere mich selbst zu Hause." Die Deutschen verschwanden sofort, als sie hörten, dass ich Deutsch sprach. Dann fuhr ich zum Bahnhof, ich hatte Befehl, dort eine Gruppe abzuholen, 60 Mann. -. Ich hole sie also ab - kräftige, schöne, gutgebaute Kerle waren das - und fahre mit ihnen nach Berlin.
Es wäre eine Lüge zu sagen, sie seien bewaffnet gewesen. Ich war doch dabei. Ich habe sie schließlich gesehen.
(Frage) Waren es Offiziere oder Soldaten?
Das sage ich Ihnen nicht. Sie waren alle in Zivil. So ist es.
Sie waren von den Deutschen jedenfalls nicht zu unterscheiden, als sie die ruhig stellten.

60 sowjetische Agenten, die für Ruhe sorgen sollen? Abwiegler gegen Aufwiegler? Es gibt Dinge, über die spricht ein alter Kämpe auch nach fünfzig Jahren nicht.

Görlitz an der Neiße. Eine geteilte Stadt.

Der Ostteil gehört zu Polen.
Von den 100000 Einwohnern im Westteil sind 40000 Flüchtlinge.

Ein schönes Renaissancestädtchen, vom Bombenkrieg beinahe unberührt.
Das Ratsarchiv verwaltet etwa seit dem Jahre 1300 kostbarste Chroniken, Wappenbriefe, Urkunden - und seit dem Zwanzigsten Jahrhundert auch Spitzelberichte: „Berichterstattung zum 17. Juni 53", „Namen sich besonders hervorgetaner Provokateure".

"Kurzer Bericht."
"Vorgänge auf dem Leninplatz".
"Masse fordert freie Wahlen".
"Nieder mit der SED".
"Erste Strophe des Deutschlandlieds als brausender Massengesang"
"Es lebe die Revolution von 1953".

Buchhaltung eines Aufstands: Abhanden gekommen im Rathaus: 1 Quittungsblock, Stempel, 5 Handtücher, Turnschuhe, Tennishemden, Badehose, Turnhemd… insgesamt im Wert von D-Mark 95,70.
Deutsche Mark der DDR.

Zerschlagen: 1 Stalinbild.

Vertraulich-Persönlich: Liste der Rädelsführer. Nr. 1: Werner Herbig, Angestellter, laut Spitzelbericht Gastwirt.

Werner Herbig: Ich selbst wollte am 17. Juni meinen Schwerbeschädigtenausweis verlängern und musste deswegen zum Polizeipräsidium, einige Straßen weiter, wo ich wohnte. Und als ich dann ins Polizeipräsidium kam am 17 Juni, so gegen 9.30 Uhr, und da merkte ich und auch die andere Bevölkerung, die da irgendwelche Dinge zu erledigen hatte, wir wurden  rausgescheucht, wir wurden aus dem Polizeipräsidium rausgeschmissen, und die Polizisten rannten rum wie die gescheuchten Hühner. Und ich stand nun an der Berliner Straße an der Ecke, wollte nach Hause und hörte einen Marschblock kommen, Arbeiter in 5er Reihen.
Und da rief einer aus dieser Reihe: „Herbig, Mensch, du gehörtst zu uns, komm mit rein!" Und dann haben sie mich mitreingezogen, dann war ich mit in der ersten Reihe in diesem Marschblock, ich wusste erst gar nicht, wie mir geschieht.
 

Bilder, die sich erst kürzlich wiedergefunden haben. Darunter Farbdias, Agfa Wolfen. Kundgebung auf dem Görlitzer Obermarkt. Respektive Leninplatz.

Bis 13.00 wurde in Görlitz alles besetzt, was zu besetzen war: Bahnhof, Stasi, SED, FDJ, Gefängnisse und das Rathaus.

Werner Herbig: Die erste Reihe rauf ins Rathaus, und da war ich dabei. Als wir nun in das Rathaus kamen, war ich eigentlich verblüfft, was dort schon alles in Gange war. Dort hatte sich eingefunden: ein Architekt, ein Malermeister, ein Autoschlosser, ein Geschäftsmann, eine Schauspielerin vom Theater, zwei Lehrlinge. Da hieß es dann, so, ihr gehört jetzt mit zur Streikleitung.

Hochkommissar Semjonow meldet um 14 Uhr nach Moskau:
„Am gefährlichsten ist es in Görlitz an der deutsch-polnischen Grenze, wo ein Mob von 30000 die SED-Büros, das Gefängnis und die Gebäude der Staatssicherheit zerstört hat. Wir haben Panzer in Bewegung gesetzt."

8 km hinter Görlitz liegt Zodel, 1100 Einwohner. 8 km - zehn Minuten mit dem Fahrrad - so kam die Nachricht vom Leninplatz in Görlitz zum Dorffriseur nach Zodel.

Karlheinz Höer: Da kamen Leute, die Haare geschnitten haben wollten, und die sagten: " Hast du schon gehört, die Leute in Görlitz demonstrieren, die haben die Gefängnisse gestürmt, die Staatssicherheit haben sie gestürmt", und dann ging das los. Da ging es bei der LPG dann los. Da waren nicht nur zwei Mann, da waren Hunderte, und dann ging der ganze Zug durch Zodel durch. Die Funktionäre mussten vorneweg vormarschieren, die wurden mit roten Fahnen zusammengebunden. Und unten war die Schlusskundgebung im Gasthaus Kindler. Da wurden die Tische herausgeholt, und da musste sich der Bürgermeister draufstellen.

Funktionäre mit Fahnentuch gefesselt, vor den Dorfbewohnern hergetrieben. einer musste ein Stalin-Bild vor sich hertragen. Der Bürgermeister auf einem Kneipentisch stehend, damit ihn die 700 Anwesenden sehen konnten, seine Amtsführung verteidigen.

Um 21 Uhr wurde ein neuer Gemeinderat gewählt. Als in den Städten überall schon Friedhofsruhe herrschte.

Berlin, Potsdamer Platz. 14 Uhr. Es wird geschossen.

Manfred Seidel: Ich weiß noch ein Kollege von mir sagte: "Jetzt müssen wir abhauen, der hat durchgeladen." So, und da ich davon keine Ahnung hatte, habe ich das auch nicht weiter ernst genommen. Die erste Salve ging dann also in die Luft, und da sich die Masse nicht bewegte, hat er dann auch tiefer gehalten, und dann brach eine Panik aus.
Mein Kollege hatte sich den Unterarm aufgeschnitten, und dann rannten wir los, und dann waren die ersten Verwundeten da. Wir haben dann trotz seiner Verletzung, oder  Verwundung, haben wir dann doch noch Einen zu packen gekriegt, der hatte einen Schuss hinten in den Hacken gekriegt, da kam vorne am Spann wieder raus,  na den haben wir dann losgezerrt. Ist ein ganz schönes Stück gewesen bis Leipziger Platz.


Halle an der Saale.

Hier ging es ziemlich heftig zu. Später. Anfangs eher fröhlich.

Ein Kameramann der DEFA-Wochenschau, „Der Augenzeuge", lädt mittags, gegen Eins, seine Kamera.
Auf eigene Faust. Dies sind die Bilder, die er gemacht hat. Den Film gibt´s nicht mehr, Übrig sind davon nur Fotos. Aus dem Archiv der Stasi.

Marktplatz in Halle. Fröhliche Gesichter.

Stasi-Archiv Halle. Hier tauchten die Bilder auf, die sich die Stasi aus dem Film kopierte, um zu identifizieren und zu verhaften.

Strafsache Albert Ammer. Der Kameramann. Dieses Foto zeigt ihn auf einem Lastwagen mit seiner Assistentin.  Ammer wurde vorgeworfen, seine Bilder für eine West-Berliner Agentenzentrale gemacht zu haben. Er sei nicht Augenzeuge, sondern maßgeblich Beteiligter und Provokateur.

Im Namen des Volkes! Drei Jahre Gefängnis.

Leipzig.

Den ganzen Tag zogen Demonstranten ungehindert durch die Stadt. Sie glaubten die SED bereits erledigt, weil die Polizei nicht eingriff, und versuchten, das riesige Stalin-Denkmal (im Volksmund „Der Kassierer") umzukippen. Die Fotos stammen von einer professionellen Fotografin.

Helga Müller: Da bin ich losgegangen, und bei den ersten Ansammlungen habe ich einfach fotografiert, also, weil's mein Beruf war, ohne da groß zu überlegen. Die meisten Kollegen haben ja nichts gemacht, aber ich hatte da keine Angst, in keiner Weise.

Die Fotografin war sich nicht darüber im klaren, wie gefährlich ihr diese Aufnahmen hätten werden können.

Helga Müller:
Na dann haben wir die aufgehoben -  für's Archiv, haben raufgeschrieben: „17. Juni", und dann haben die gelegen, gelegen, gelegen, gelegen.

Frau Müller hatte ein privates Film- und Fotoatelier. Zusammen mit ihrem Onkel. Und während sie fotografierte, drehte er einen Film. Auf 35 mm. Kinoformat.

Helga Müller: Herr Treblegar, der Kameramann - er war gleichzeitig auch mein Onkel, er hat an diesem Tag gleichzeitig auch gefilmt. Wir waren aber nicht zusammen, jeder ging so seine eigene Strecke.

Anders als sein Kollege Ammer in Halle, hatte Gerhard Treblegar Glück: Er wurde nicht erwischt. Und der Film nicht gefunden. Nie.

Bis vor wenigen Wochen. Als ein pensionierter Toningenieur in Hessen auf seinen Dachboden stieg. Und nachsah, was denn in der Büchse drin war, die ihm Treblegar vor dreißig Jahren anvertraut hatte.

zurück

Home

weiter

© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003