Teil 4 von 4


Die ersten bewegten Bilder vom 17. Juni außerhalb Berlins: Fröhliche Gesichter.

Helga Müller: Der Film hatte über 20 Jahre gelegen. Belichtet, unentwickelt, und dann der Kameramann wurde 1974 Rentner, und das war ja so ein magisches Datum bei uns - ab da konnte man nach dem Westen fahren. Und dann hatte er denn mal den Film mitgenommen.

In der Beethovenstraße vor dem Gebäudekomplex der Staatsanwaltschaft, des Bezirksgerichts und der Untersuchungshaftanstalt. Hier hatten sich schon seit Tagen immer wieder Menschen versammelt, die hofften, im Zuge des „Neuen Kurses" der SED kämen ihre verhafteten Angehörigen frei. Tatsächlich waren bis zum 16. Juni und auch am Vormittag des 17. viele Gefangene freigelassen worden.

Das Mädchen mit dem Schild, auf dem steht „Nieder mit der Regierung" wurde später verhaftet und saß bis 1962 im Zuchthaus.

Um 12.30 notierte die Staatssicherheit Leipzig: „Die eingesetzten Agit. Prop. geraten in Bedrängnis."

Ab 12.50 versuchen Demonstranten, in das verbarrikadierte Untersuchungsgefängnis einzudringen.

Kulturhaus des Volkseigenen Betriebs „Leipziger Feinkost".

Gegenüber das Verlagsgebäude der Leipziger Volkszeitung.

14 Uhr 20. Der erste sowjetische LKW. Der Film bricht ab. Eine Stunde später gibt es den ersten Toten in Leipzig.

14 Uhr 30. Vor dem Zuchthaus Roter Ochse in Halle.

Bilder aus dem beschlagnahmten Film des Kameramanns Ammer. Sturm auf das Gefängnis. Auf die Bastille sozusagen. Hier wie überall wurden Gefängnisse belagert. Nicht aus Solidarität mit Kriminellen.

In Halle haben die Wachmannschaften Schießbefehl: Vier Tote, viele Verletzte.

15 Uhr 15. Sturm auf das Untersuchungsgefängnis Kleine Steinstraße in Halle.

Hans Schubert: Da beobachten wir, wie aus den Fenster eines oberen Stockwerkes eine Person herausgeworfen wird, die eine deutlich blaue Uniform trug. Also Polizeiuniform. Großes Gejubel und Geschrei, und dann plötzlich kamen zwei Sanitätskraftwagen, also Krankenwagen, angefahren, und da steigen Leute aus in weißen Kitteln aber mit einer umgehängten Maschinenpistole. Ja, das waren Offiziere der damaligen kasernierten Volkspolizei. Die wurden natürlich sofort entwaffnet, die Wagen wurden umgestoßen.

Zwischen 15 und 16 Uhr werden 245 weibliche Häftlinge aus dem Gefängnis befreit. Der Direktor selbst läßt die Zellen öffnen, als die Menge in den Hof dringt. Krankenwagen werden gerufen, weil viele der Frauen in schlechter Verfassung sind.

Unter den Befreiten war eine Frau, die sich selbst als KZ-Aufseherin bezichtigt hatte. Wer Erna Dorn wirklich war, ist bis heute nicht geklärt. Immer mal wieder hatte sie sich neue Verbrecherkarrieren erfunden, die alle nicht bewiesen werden konnten.

Hans Schubert: Im Laufe des Nachmittags hatten wir auch das Gefühl, dass die ganzen Ereignisse irgendwie umschlagen. Aus der disziplinierten Demonstration am Vormittag wurde jetzt so mehr Tumult, Plünderei, und auch einzelne Kioske der HO wurden angesteckt, und erst am späten Nachmittag, da griff dann die Sowjetarmee ein. Und mit Panzern fuhren sie auf den Zufahrtsstraßen, und neben den Panzern fuhren auf den Bürgersteigen Motorräder mit Beiwagen - Krad sagt man bei uns dazu - und haben die Leute zusammengetrieben und irgendwo in Seitenstraßen, ich weiß nicht mehr, in welcher, standen große Lastwagen, da wurden die Leute aufgeladen und weggefahren. Wir sind irgendwie entwischt.

Die letzten Bilder aus Ammers Film. Sowjetische Soldaten vor dem Untersuchungsgefängnis. Kurz nach sechzehn Uhr.

Nach seiner Haftentlassung ging Ammer in den Westen.

Jena. Vor der SED-Kreisleitung steht das Volk. Auch hier kamen die Panzer erst am Nachmittag. Sie waren im Sommermanöver.

Viktor Nasarow: Als wir alarmiert wurden, luden wir die Panzer mit Munition voll. Dann wurden wir zu unserem ständigen Standort zurückkommandiert - nach Jena.
In Jena war bereits eine MG-Schützen-Kompanie unseres Regiments in Stellung gegangen. Bei den Zeiss-Werken warteten sie auf Verstärkung durch unsere Panzer. Jena ist eine Stadt mit engen Gassen, und es ist ziemlich laut, wenn da eine Panzerkolonne durchkommt.
Wir postierten zwei Panzer am Werktor von Zeiss. Sie standen dort ziemlich lange, bis die ganze Manifestation vorbei war.


Berlin, Potsdamer Platz, 16.30. Die Polizeistation im Kolumbus-Haus wird geplündert. Wenig später steht das Haus in Flammen.

Zur gleichen Zeit in Bitterfeld. Der Aufstand geht zu Ende, als die Russen das Rathaus besetzen.

Wilhelm Fiebelkorn: Der Offizier, als wir dann heruntergingen, als es sinnlos war noch zu bleiben, brüllte dann: „Was, du Schwein hier, ihr Schweine, raus". Na ja, so bin ich ´rausgekommen, weggekommen. Dem Übereifer des sowjetischen Offiziers verdanken wir, die wir ´rausgingen, dass wir nicht verhaftet wurden.
Paul Othma machte natürlich einen Fehler.


Welchen Fehler machte Othma? Der andere Streikführer in Bitterfeld. Er lief nicht davon.

Am nächsten Tag in der Zeitung: „Das ist der Faschist Othma".

Hedwig Othma: Ich sagte noch - „warum biste nicht weg, wie die anderen, die sind sofort getürmt". Die anderen Herren, die da in der Streikbewegung mit waren. Wurde mir erzählt, dass die schon alle nach'm Westen sich abgesetzt hätten. Ja, ich wusste ja nichts von diesem, was da war, ja, ich sagte, „Ja, warum bist du den nicht mit" - „Nee" sagt er , „ich habe doch nichts verbrochen. Ich hab` doch nichts getan". Ich sage „Ja, du hast doch wohl zu den Leuten da gesprochen, hat man so erzählt", - „Ja," sagte er, - „wir haben nur die Forderungen der Arbeiter vertreten, nichts weiter. Und was soll ich - ich bin mir keiner Schuld bewusst". Das war sein Standpunkt vom Anfang bis zum Ende.

Berlin, morgens früh am 18. Juni.
Kasernierte Volkspolizei und sowjetische Soldaten an der Sektorengrenze. Die Sowjetmacht hatte mit ihren Panzern das Regime gerettet.

Und das Regime, dessen Existenz noch eben am seidenen Faden hing, saß schon wieder fest im Sattel. Aufstand? Das war doch kein Aufstand!

Kommentar Filmausschnitt: Bevölkerung, Volkspolizei und  Sowjetische Besatzungsmacht haben innerhalb weniger Stunden den Putsch zerschlagen. Die aus Westberlin eingeschleusten Provokateure - wie dieser hier - wurden verhaftet. Das war nicht das Werk demonstrierender Arbeiter - das war das Werk von Banditen.

Viktor Nasarow: Am nächsten Tag und auch später haben wir gesehen, wie die Demonstranten aus den Fenstern des Werkes schauten und uns zuwinkten. Aber in Jena selbst gab es keine Demonstrationen mehr, es war alles still. Bei Zeiss haben sie noch fast zwei Monate gemeutert. Dann hatten sie genug und begannen, ihre Anstifter auszuliefern.

Kommentar Filmausschnitt: Zehntausende gelobten, gemeinsam mit der Regierung unserer Republik den neuen Weg zu gehen. Mit frohen Herzen dankten sie vor allem denen, die ihr und ihrer Kinder Leben schützten. Den Soldaten der Sowjetarmee.  Mit eigenen Augen hatten sie gesehen, wie am missglückten Tag X der Regierung Adenauer und Reuter die Männer mit dem Sowjetstern den Frieden Deutschlands, den Frieden Europas gerettet haben.
Mit Beifallsstürmen wurden vor dem Hause der Ministerien in der Leipziger Straße die Mitglieder der Regierung begrüßt.


Leonid Kisljakow: Wir standen drei Tage in Magdeburg. Mit der Zeit freundeten wir uns mit den Deutschen richtig an. Das war auch gar nicht mehr verboten. Noch kurz davor wurdest du für ein Treffen mit einem deutschen Mädchen sofort nach Hause geschickt. Innerhalb von 24 Stunden. Jetzt dagegen: Bitteschön! Es wurde sogar gefördert.
Kamerad, Kamerad, sei gesund.
Aber erklärt haben sie uns nichts. Tag X. Was für ein Tag X? Warum Tag X? Weil es eben ein unerklärlicher Tag war! Dieser Tag X.


Konstantin Garin: Der Tag X? Ein unbekannter Tag. Unsere Aufklärung wartete darauf, dass etwas passiert. Aber wann - unklar. Der Tag ist unbekannt. Der Tag X.
(Frage) Und hatten die Amerikaner was damit zu tun?
Nein. Ich habe nichts gehört, nichts gesehen. Bestimmt hätten sie sich gefreut. Das sind doch Amerikaner. Das ist doch der Kapitalismus.


Kommentar Filmausschnitt: In diesen Tagen kamen sich deutsche und sowjetische Menschen besonders nah. Vor allem in Zeiten der Gefahr bewährt sich wahre und echte Freundschaft.

Werner Barfus: So, und alle Todesurteile sind innerhalb von 24 Stunden dem obersten Gericht durch Sonderkurier zu übersenden

Sonderkurier der Obersten Gerichts war Werner Barfus, und der überbrachte zwei Todesurteile, eins nach Magdeburg, eins nach Halle.

Werner Barfus:
Die Dorn wurde am 27.6. verhandelt bei uns schon. Und das war also praktisch 10 Tage nach dem Putsch. 17. Juni, ja, 10 Tage nach dem... wurde das Urteil verhandelt schon bei uns.

Erna Dorn, jetzt schon offiziell „SS-Kommandeuse", wurde als Rädelsführerin zum Tode verurteilt. Dass sie erst kurz vor dem Ende des Aufstands aus dem Gefängnis befreit worden war, konnte ihre Richter nicht irritieren. Und dass sie vielleicht gar keine Kommandeuse gewesen war, sondern nur ein verwirrte Frau, auch nicht.

Die DDR-Gerichte fällen zwei Todesurteile. Mindestens achtzehn Todesurteile werden durch sowjetische Militärtribunale verhängt. Hunderte von Gefangenen in den GULag deportiert - nach Paragraph 58a der Sowjets für politische Delikte. Aber man konnte nicht die Belegschaften ganzer Fabriken verurteilen. Also mußte man immerzu Rädelsführer bestimmen, und die sollten es ausbaden.

Wie der Friseur in Zodel.

Karlheinz Höer: Wir wurden ja bei der Staatssicherheit Tag und Nacht verhört. Schlafen konnten wir nicht, zu essen Salzheringe ohne Wasser, und da sind wir mürbe geworden, und da haben sie gesagt : „Unterschreiben!" Und da haben wir unterschrieben.

Werner Herbig: Der Oberst da am Schreibtisch brauchte nur von unten drücken, konnte dann in die Arme und in die Beine Strom einlassen, so dass wir immer schockten, wie er das gerade haben wollte, so dass diese Erpressungsmethoden eine Reihe ist, die man eigentlich nur bei den Nazis kennen gelernt hatte.

Im Juni 54 führte ein Schauprozeß vier „Hintermänner" des Aufstands vor, die man eigens aus West-Berlin entführt hatte. Der Prozeß sollte beweisen, dass der ganze Aufstand vom Westen aus geplant war.

Kommentar Filmausschnitt: Vor dem Obersten Gericht standen vier Agenten westlicher Geheimdienste, Organisatoren des faschistischen Putschversuches vom 17. Juni. Die Angeklagten, die neue Anschläge gegen die Lebensinteressen unseres Volkes vorbereiteten. Der Prozess zeigte die Rolle des berüchtigten Forschungsbeirates, der Pläne entwarf, wie volkseigenes Betriebe und Neubauernland unserem Volk abgenommen werden sollten.

Karlheinz Höer: Das Urteil war doch fix und fertig, die Richter brauchten das doch gar nicht aussprechen, das wurde doch schon bei der Stasi, -  wurde das doch schon festgelegt.

Werner Herbig: Da trat ein Staatsanwalt auf im blauen Drillichanzug, Segeltuchschuhe, und riss die Brust auf: "So, ihr Verbrecher, ihr werdet von Arbeitern verurteilt!"

Karlheinz Höer: Die haben den Michel Willi zu 15 Jahren, den Jäger Kurt zu 15, den Rönsch Gustav 12, Altmann, Erich 8.

Werner Herbig: Die ganze Gerichtsverhandlung hat 15 Minuten gedauert. So dass das dann der eine lebenslänglich bekam, einer 15 Jahre, einer 8 Jahre einer 6 Jahre, ich bekam 5 Jahre Zuchthaus und Vermögenseinzug.

Karlheinz Höer: Und ich war der jüngste, 6 Jahre, das war meine Jugendmilderung.

Hedwig Othma: Und dann kam die Verhandlung. 12 Jahre Zuchthaus für Aufwiegelei der Bevölkerung, und er wurde dann verurteilt zu den 12 Jahren, die Hälfte des Hauses wurde weggenommen als Staatseigentum, ich kriegte dann immer Leute rein. Und Einziehung seines Vermögens, er war verantwortlich für alles, was diesen Tag zu Schaden gegangen ist, sozusagen, die Arbeiter, die haben ja nicht gearbeitet, das wurde alles meinem Mann zur Last gelegt. Ja. Sparbuch gesperrt, keinen Lohn kriegte ich mehr ausgezahlt, das war alles Staatseigentum nachher. Ja, wie gesagt, nun stand ich da.

Briefe aus dem Gefängnis. Mit Ulbricht drauf. Hedwig Othma wartete bis 1964 auf ihren Mann. Dann kam er heim, krank und gebrochen, und starb nach vier Jahren.

Im Sommer 54 wird in Wernigerode der Oberförster Heinz Hildebrandt verhaftet. Wegen Geldsammlung unter Waldarbeitern für die Familie eines Inhaftierten. 1000 Mark und 27 Pfennig.

Heinz Hildebrandt: Da kam die Frage: „Wissen Sie, wo Sie sind?" -  „Ja", sage ich, „bei der Stasi". Da kriegte ich die erste Dresche. „Das heißt nicht Stasi, sondern das ist Ministerium für Staatssicherheit. Stasi betrachten wir als Schimpfwort. Und dass Sie es gleich wissen, Sie können uns nicht mit den Methoden der Gestapo vergleichen, wir sind anders". Schläge noch und noch, versalzenes Essen - ausreichend zu Essen, das war die andere Sache, nee... Aber total versalzen und nichts zu trinken, um einen mürbe zu machen. So, dann war der Empfang in Halle in dem „Roten Ochsen". Haftbefehl zeigen, unterschreiben, dass ich das zur Kenntnis genommen. Dann wieder wegnehmen. Und dann kam ich erst mal zur Besinnung in eine so genannte „Stehzelle".

Hildebrandt war 30 Monate im Gefängnis. Im Roten Ochsen in Halle.

Heinz Hildebrandt: Von da an wurde ich ein großer Hasser des Systems. Ich hab´ davor das System auch nicht gern gehabt, aber das war eine andere Sache. Ich habe es auch bekämpft, wo ich konnte. Aber so glühend gehasst erst seitdem. Und hab' das fortgesetzt bis zur Wende. Und hab mir von der Stunde an geschworen, die Wende muss kommen. Und dafür wirst du dich einsetzen! Und habe mich eingesetzt.

Nach seiner Entlassung durfte er dann nicht mehr in seinem Beruf arbeiten, wurde Straßenkehrer. Bei Agfa-Wolfen.

Hedwig Othma: Wissen sie, wie das hier mit dem Umsturz, oder wie sagt man, diese Vereinigung kam, ich habe gedacht, ich drehe durch, habe gedacht, konnte das nicht schon damals schon so sein, dafür haben die Menschen hier gekämpft. Und sind so viele, die so unglücklich vielleicht waren, wie ich.

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© Schmidt & Paetzel Fernsehfilme, 2003